In mittelalterlichen Bildtafeln diente die Landschaft lediglich als Hintergrund, um die Hauptfiguren zu platzieren, ohne eigene Bedeutung und oft als Fantasielandschaft dargestellt.
Ein bedeutender Wandel vollzog sich mit dem Altar für die Genfer Kirchengemeinde, gemalt von Konrad Witz. In seinem Werk „Der wunderbare Fischzug des Petrus“ verlegt Witz 1444 die biblische Szene des Sees Genezareth an das Südufer des Genfer Sees und schafft erstmals im Kontext der Kunstgeschichte ein topografisch genaues Abbild einer realen Landschaft.
Konrad Witz, Public domain, via Wikimedia Commons
Es sollten jedoch 100 Jahre vergehen, bis die Landschaft erstmals als eigenständiges Subjekt der Malerei betrachtet wurde. 1522 malte Albrecht Altdorfer die „Donaulandschaft mit Schloss Wörth“. Zum ersten Mal steht eine Landschaft ohne heiliges Personal im Mittelpunkt. Die Landschaft ist nicht mehr Beiwerk, sondern eigenständiger Bildinhalt. Sie steht für sich.
Abbildung Albrecht Altdorfer (um 1480): Donaulandschaft bei Regensburg mit dem Scheuchenberg. Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Alte Pinakothek München https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artwork/Qm45RnqxNo/albrecht-altdorfer/donaulandschaft-mit-schlosswoerth) Creative commons Lizenz CC BY-SA 4.0
Das obige Gemälde ist Ausdruck einer Vorliebe für die gotische Architektur, die in der folgenden Epoche, der Romantik, fast zur Obsession wird.
Die Romantik, insbesondere die deutsche, wendet sich dem Mittelalter und der Gotik zu. Die Neuzeit mit der Aufklärung weckt zugleich Ängste und wird überwiegend innerlich abgelehnt. Friedrichs Figuren tragen altdeutsche Trachten. Barocke Architektur findet sich auf keinem romantischen Gemälde.
Barock und auch Rokoko wurden als dekadent und französisch angesehen. Im Gegensatz dazu wurde die Gotik, der Stil des Mittelalters, als der neue Stil angesehen.
Es ist die Zeit der klassischen pietistischen Bewegung in Deutschland. Der Pietismus dieser Epoche steht in vielfältiger Beziehung zum Barockpietismus, ist sich aber seiner Gegnerschaft zur Aufklärung in ganz anderer Weise bewusst. Sturm und Drang und Romantik beeinflussen ihn. Individualität und Pflege der Gefühlskultur werden betont. Ein Rückzug in die Innerlichkeit, die unterstellte Sehnsucht nach der ursprünglichen Natur.
Seinen Durchbruch als Maler erlebte C. D. Friedrich mit dem (damals umstrittenen) „Kreuz im Gebirge“ (Tetschener Altar), einer Landschaftsszene in religiös überhöhtem Kontext. Zwei wesentliche Effekte kennzeichnen die Malerei des 19. Jahrhunderts: die Lust am Unheimlichen und das Licht, das den Wandel in der Landschaftsauffassung prägt.
Deutschlandfunk.de: Aufklärung über Romantik
Das Motiv der Rückenfigur bei Slava Seidel
In einer großen Höhle nähert sich ein Radfahrer auf einem schmalen Pfad dem Höhlenausgang. Sein Blick lenkt den Betrachter zu einer Figur in der rechten Bildhälfte, die in die Landschaft schaut. Das rätselhafte Hauptmotiv des Bildes wird erst nach genauerer Betrachtung deutlich. Der Bildaufbau, der den Blick aus der Höhle ins gleißende Licht lenkt, folgt einem bekannten Schema der europäischen Landschaftsmalerei des 16. bis 19. Jahrhunderts, wie es bei Künstlern wie Joos de Momper, Caspar Wolf oder Théodore Rousseau zu finden ist. Slava Seidel greift dieses Motiv auf und schafft eine geheimnisvolle Szenerie. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die Höhle, in der sich der Betrachter befindet, keine natürliche Formation ist, sondern eine riesige, zur Seite geneigte Gewölbekuppel, die an barocke Kirchen oder Palastbauten erinnert. Sichtbar sind Gewölberippen, Ornamentkassetten und die Andeutung einer Deckenmalerei. Wie ist dies möglich? Haben Menschen diese architektonischen Formen in die Höhlenwände gemeißelt? Wer könnte eine solche Meisterleistung vollbracht haben und aus welchem Grund?
Oder ist die Kuppel eine Ruine, ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, das nahtlos in die natürliche Umgebung übergegangen ist? Diese Szenerie wirkt sowohl unwirklich als auch fantastisch, sie öffnet unvorstellbare Zeiträume und verleiht dem Ganzen den Anschein, als wäre man in einem Traum oder einem Fantasy-Film. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die überdimensionalen Kristalle, die über den Boden der Höhle verstreut sind.
Die kühnen Raumerweiterungen in den Bildern von Slava Seidel verleihen ihnen ein barockes Erscheinungsbild, ebenso wie ihr Hang zu allegorischen Szenen. In ihrem Gemälde „Allegorische Stimmung“ von 2016 werden ein Totenschädel und ein Schmetterling als Hauptmotive verwendet, die aus den Vanitas-Gemälden des 17. Jahrhunderts bekannt sind. Der Totenschädel erinnert als „Memento mori“ (lateinisch für „Sei dir der Sterblichkeit bewusst“) an die Vergänglichkeit des Lebens, während der Schmetterling die menschliche Seele und die Hoffnung auf ein ewiges Leben symbolisiert. Durch die Umkehrung der Größenverhältnisse, bei der der Schmetterling so groß dargestellt wird, dass er mit dem menschlichen Schädel zu interagieren scheint, wird die Symbolik verändert: Der Schmetterling wirkt nun furchterregender als das Totenkopfmotiv.
In der kleinformatigen Zeichnung „Touch“ wird dargestellt, wie ein überdimensionaler Schmetterling die Schulter eines am Boden sitzenden Mannes berührt. Die Größe des Schmetterlings entspricht der des Mannes selbst, dessen ausgebreitete Rockschöße an die Flügel des Insekts erinnern. Diese beiden Wesen scheinen wie ungleiche Zwillinge miteinander verbunden zu sein, oder der Schmetterling könnte das groteske Alter Ego des Mannes darstellen, sein kafkaeskes Spiegelbild. Die Szene erinnert an Gregor Samsa in Kafkas „Verwandlung“, der sich eines Morgens in ein monströses Insekt verwandelt.
Slava Seidel hat das Motiv der Rückenfigur in ihren Werken so vielfältig und eindrucksvoll gestaltet, dass es als ihr Markenzeichen gelten kann. Ihre wichtigste Funktion besteht darin, auf einer zweidimensionalen Bildfläche einen dreidimensionalen Raum darzustellen und so einen Tiefenraum zu erzeugen. Der Betrachter kann sich mit der Rückenfigur, die in das Bild blickt, identifizieren und so die Existenz eines Raumes nachempfinden.